Markus Poschner

Von Markus Poschner.

Nach so vielen Jahren der intensivsten Auseinandersetzung und Begegnung mit Anton Bruckner, nach unzähligen Aufführungen und Aufnahmen seiner Werke muss ich gestehen: Er bleibt für mich dennoch ein unlösbares Rätsel.

Da ist so viel Beunruhigendes, Irritierendes und Widersprüchliches, Bruckner ist nichts Geschlossenes, er bleibt unbekannt und entzieht sich neugierigen Annäherungsversuchen. Man möchte fast denken, da waren Medienprofis am Werk, um ihn vor den Blicken einer aufdringlichen Öffentlichkeit zu schützen, durch geschickte Verschleierung und gezielte Anekdoten. In Wahrheit leistete er sich einfach nur, unangepasst zu sein. Und doch aber braucht es jedes Mal nur einen winzigen Augenblick, um sich in seiner Musik vollständig zu verlieren, um in andere geheimnisvolle Welten weggetragen zu werden. Kaum ein Komponist ließ sich jemals über seine Musik so tief in die Seele blicken, alles erscheint plötzlich unfassbar vertraut, tief und verständlich.

Wie ist das möglich? Wie ist es überhaupt zu verstehen, dass der gebürtige Ansfeldner und spätere Hilfslehrer aus Windhaag Weltmusik schrieb, die uns noch heute, 200 Jahre nach seiner Geburt, auf der ganzen Welt und über alle Kulturgrenzen hinweg in ihren Bann zieht? Er begann weder als Wunderkind noch als Genie, war bereits weit über 30 Jahre alt, als er sich ernsthaft mit Komponieren beschäftigte, und über 40 Jahre alt, als er endlich seine erste Sinfonie öffentlich präsentierte. Er lebte also weit mehr als ein halbes Leben lang ein vollkommen unscheinbares, kleinbürgerliches Leben in der oberösterreichischen Provinz als Kirchenmusiker und Schulgehilfe, ganz bei sich, abgekapselt, unbeobachtet und geschützt vor dem Licht der Öffentlichkeit.

Und vermutlich nimmt genau da das Rätsel um das späte Genie Bruckner seinen Anfang. Sinfoniker zu sein, muss für ihn so etwas wie eine göttliche Bestimmung gewesen sein, wobei Zeit dabei absolut keine Rolle spielte. Viel wichtiger waren Kompetenz und Meisterschaft, das Lernen des Handwerks und das Verstehen der Tradition. Mit der grandiosen Bibliothek des prächtigen Stifts St. Florian stand ihm ohnehin auch der größtmögliche Wissensschatz der damaligen Zeit uneingeschränkt zur Verfügung, quasi eine riesige historische Google-Maschine. Und seine Vision, ja noch mehr seine Mission war von gigantischem Ausmaß: Er suchte sein Leben lang nach nichts weniger als dem perfekten Kunstwerk mit den perfekten Proportionen. Jede weitere neue Sinfonie sollte eine noch bessere Annäherung sein an das unerreichbare Idealbild, mit noch gigantischerer Auflösung und Verfeinerung. Und tatsächlich brachte Bruckner schier alle musikalischen Parameter des 19. Jahrhunderts an die Grenze, besonders aber die Zeit. Er fand seinen Archetypus in der Sinfonie und über diese zur Idee der Monumentalität, der Entladung, der Durchbrüche und der Expansion.

Stellvertretend für die extremen Gegensätze und scharfen Kontraste in seinen Werken stehen wohl exemplarisch der Choral und die Polka – sozusagen musikalische Synonyme für Kirche und Wirtshaus und damit wiederum nichts anderes als ein Abbild seines gesamten für ihn denkbaren Weltkreises. Wenn, wie in seiner dritten Sinfonie, die Themen aus Tristan und Isolde direkt mit einer frechen böhmischen Polka verbunden werden, ist Bruckner ganz bei sich: unerreichbar, phänomenal, avantgardistisch. Bruckner denkt in anderen Kategorien – damit ist er ein Solitär und tatsächlich mit keinem anderen Komponisten seiner Zeit vergleichbar.

Nicht mehr das Drama, sondern der Ritus steht im Zentrum seines Denkens und Fühlens, seine Musik ist post-dramatisch. Selbst seine eigenen knappen Versuche, einem ratlosen und vollkommen überforderten Publikum seine Sinfonien über naive programmatische Hilfestellungen näherzubringen, vermögen nicht, das Gesagte auch nur annähernd einzufangen oder abzubilden. Ganz im Gegenteil: Die Hilflosigkeit und Belustigung seines Publikums vergrößerte sich nur um ein Zigfaches. Das Erlebbare in seiner Musik entbehrt völlig – wie bei jeder großen Kunst – der Beschreibung und entzieht sich jeglichen Programms, ähnlich einem Gipfelerlebnis nach langem Aufstieg.

Nach wie vor allerdings und ironischerweise wie schon zu seinen Lebzeiten sehen wir uns auch heute immer wieder konfrontiert mit einem trügerischen Bild von Bruckner: Der vermeintliche Musikant Gottes wird durch pathetische Interpretationswucht in allzu abgeschliffenen Aufführungen im permanenten Überwältigungsmodus auf dem Altar der Geschmacklosigkeiten bei dichtem Weihrauchdunst geopfert.

Mehr Missverständnis ist eigentlich kaum möglich, dies aber scheint sozusagen mitkomponiert. Aber wie sollte es auch anders sein bei einem Komponisten, dessen eigentliches Thema das Disparate ist? Sein Konzept war nicht mehr steigerungsfähig, seine letzte Sinfonie blieb unvollendet – mehr Symbolik ist auch hier kaum möglich. Und uns bleibt nur, staunend davor zu stehen und uns zu verneigen – wie schon seinerzeit seine Magnifizenz, der Rektor der Wiener Universität, bei seiner Laudatio im Jahre 1891 – vor dem Schulgehilfen aus Windhaag.

Erschienen in Foyer5 September/Oktober 2023
Foto: Kaupo Kikkas

Markus Poschner & Bruckner Orchester Linz

Bruckner-Befragungen V

Markus Poschner im Gespräch über Bruckners Sinfonie Nr. 6 A-Dur (und die Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 90 von Johannes Brahms).

Nichts bei Bruckner ist Zufall. Alles hat irgendwo einen Urgrund, eine Verbindungslinie.

Markus Poschner

Teil 5 einer Reihe von Bruckner-Befragungen, die seit dem Internationalen Brucknerfest Linz 2018 immer dann stattfinden, wenn das Bruckner Orchester Linz unter der Leitung seines Chefdirigenten Markus Poschner im Brucknerhaus Werke des Namensgebers beider Institutionen zur Aufführung bringt.

So, 13.09.2020 | Brucknerhaus LINZ
INTERNATIONALES BRUCKNERFEST LINZ 2020 | Brahms-/Bruckner-Zyklus I
JOHANNES BRAHMS Sinfonie Nr. 3 F-Dur, op. 90
ANTON BRUCKNER Sinfonie Nr. 6 A-Dur, WAB 106
Markus Poschner & Bruckner Orchester Linz

Das Gespräch führte Jan David Schmitz, Leiter Programmplanung, Dramaturgie und szenische Projekte im Brucknerhaus Linz.

Markus Poschner

Von Markus Poschner.

Ein Schmetterling sieht, was er sieht, der Mensch aber glaubt, was er zu hören oder zu sehen meint. Um uns zurechtzufinden, müssen wir uns Bilder von der Welt machen, die aber immer nur Deutungen sind.

Dieses Weltdeutungsbedürfnis ist Ursache aller Religion, aller Wissenschaft, allen Forscherdrangs – vor allen Dingen aber auch Ursprung der Kunst. All diesem Streben gemeinsam ist dabei die Suche nach Antworten auf die Frage nach dem Wie und dem Warum.

Der Wiener Physiker Anton Zeilinger schrieb einmal: »Es ist ganz offenkundig sinnlos, nach der Natur der Dinge zu fragen, da eine solche Natur, selbst wenn sie existieren sollte, immer jenseits jeder Erfahrung ist.«

Wie wirklich ist also die Wirklichkeit? Und welche Rolle spielt dabei unser Hören, unser Empfinden, unser Sehen? Derselbe Wiener Physiker vermutete, dass die sogenannte Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation ist. Er kam zu dem Schluss, »es mache offenkundig keinen Sinn, über eine Wirklichkeit ohne die Information darüber zu sprechen. Wir können die Wirklichkeit nicht ermessen, womit zugleich jede Aussage, etwas sei übernatürlich, unsinnig ist.« Anscheinend gibt es natürliche Grenzen sinnvollen Fragens. Die Welt ist wohl unendlich viel komplizierter, als sie uns erscheint.

Was täten wir nun ohne die Kunst? Sie tritt als unser Scharnier zur Außenwelt auf, sie sorgt letztlich dafür, dass wir die Welt wahrnehmen und sehen. Man könnte sagen, der Auftrag von Kunst ist es, die Welt begreifen zu können. Wenn man einen Sonnenuntergang sieht, wird man ihn möglicherweise über den großen englischen Maler der Romantik William Turner sehen, geheimnisvolle Landschaften über Caspar David Friedrich und beklemmende Situationen über Franz Kafka erleben. Ein Gipfelerlebnis nach einer anstrengenden Bergwanderung wird möglicherweise erst dann in seinem vollen Ausmaß spürbar, wenn einem schon mal Bruckners Achte passiert ist und die eigene tiefe Traurigkeit kann einem selbst erst über das Eintauchen in die unbeschreibliche Welt des Franz Schubert richtig begreifbar werden.

Der Künstler ist nicht angetreten, um Kunst für die Menschen zu machen, er macht Kunst der Menschen – das ist ein riesiger Unterschied. Die Kunst ist letztlich dafür verantwortlich, wie man die Zeit sieht. Viele wichtige Konzepte, die sprachlich nur undeutlich definiert sind, wie beispielsweise Liebe, Verzweiflung oder Glück, können mit Musik viel eindeutiger vermittelt werden, als über unsere Alltagssprache. Es ist ja bezeichnend, dass uns die Sprache als Ausdrucksmittel des menschlichen Innenlebens evolutionär betrachtet erst viel später zur Verfügung stand als die Musik, wie uns beispielsweise der Fund einer fast 40.000 Jahre alten Schwanenknochenflöte beweist. Unsere Beobachtung bestimmt, welches Bild von der Wirklichkeit wir bekommen. Die Kunst wiederum prägt unser Beobachten. Selten zuvor war das Abhandenkommen von Kunst in unserem Lebensalltag so schmerzhaft spürbar wie jetzt während der Corona-Pandemie. Sofort war zu erleben, wie sich gleichsam der Lebenssinn und das Erleben zu verflüchtigen begann beziehungsweise durch hektische Neuorientierung und nervöse Selbstfixierung ersetzt wurde. Ein altbekanntes Phänomen: Das Zählen und Besitzen steigert temporär die Bedeutung, aber mindert den Sinn. Wie so oft erfahren wir erst den wahren Wert einer Sache oder eines Zustandes über sein Verschwinden, über seine Nichtverfügbarkeit.

Ernsthaft Kunst machen ist allerdings auch ein Fluch. Man muss an das glauben, was man tut und die Wahrscheinlichkeit, dass das, was man tut, umsonst ist, ist tausendmal größer als die Chance, wirklich verstanden zu werden. Die Künstler arbeiten nicht für das Normale, sondern für das Absolute, das Maximum: »Mir fehlt etwas, wenn ich keine Musik höre, und wenn ich Musik höre, fehlt mir erst recht etwas«, wie es Robert Walser formulierte. Was bleibt, ist die unendliche Sehnsucht nach dem Sinn.

Ein Kunstwerk ist immer mehr als nur ein Zeitdokument – Kunst beschäftigt sich mit unserem Leben, Kunst betrifft uns, Kunst kann niemals aus der Distanz betrachtet werden. Unser heutiges Leben ist das Maß des Erzählens, wir müssen die Kunstwerke der Geschichte immer wieder entreißen. Der Interpret kann dabei niemals in die Haut des Komponisten schlüpfen. Wenn ein Stück gut ist, erlaubt es viele Standpunkte, es gibt so gesehen gar keine Authentizität. An der Musik interessiert ausschließlich das Jetzt. Auch das Werk muss sich uns gegenüber immer wieder neu beweisen. Und dafür wird es in unserer hoffentlich uneingeschränkten neuen Saison wieder höchste Zeit!

Foto: Zoe Goldstein

Markus Poschner

Von Markus Poschner.

Töne sind nicht wie Bauwerke oder Gemälde, sie haben keine andauernde objektive Bedeutung, keine unabänderliche Präsenz. Natürlich, da ist die Partitur, das Notenblatt mit mehr oder weniger exakten und ausführlichen Angaben des Komponisten, der auf diese Weise durch die Jahrhunderte hindurch seine musikalischen Gedanken verschlüsseln konnte, ähnlich einer Landkarte, die sozusagen uns musikalischen Wanderern den Weg zum Kunstwerk weisen soll. Die erst tausend Jahre alte Möglichkeit der schriftlichen Notation hat uns einen enormen Reichtum an Kunstwerken konserviert.

Wir wissen aber nur zu gut, dass der weitaus größere Anteil der jemals erdachten menschlichen Musik einen für uns für immer verlorenen Kontinent darstellt, eben weil er nie notiert, sondern rein mündlich weitergegeben wurde und schließlich verschwand. Und hierin erahnen wir das grundlegende Problem und gleichzeitig den eigentlichen Sinn von Interpretation: Jedes musikalische Kunstwerk bedarf einer ständigen Verlebendigung. Es muss immer wieder aufs Neue ausgeleuchtet, abgetastet und schlicht verstanden werden. Dabei ist nicht unbedingt die Neuheit des Gesagten, sondern der Grad der inneren Notwendigkeit, der Menschlichkeit, der Ausdrucksgewalt der Maßstab für die Bedeutung einer Interpretation. Und da ist noch ein weiterer, tieferer Sinn: Das Innere selbst ist der eigentliche Inhalt der Musik, das Subjektive, und das kann immer nur von jemandem dargestellt werden, der seine eigene subjektive Innerlichkeit in das Kunstwerk hineinlegt. Verkürzt gesagt muss folglich das Innenleben des Komponisten durch das Innenleben des Interpreten zum Innenleben des Hörers vermittelt werden. Musik kann sich aber nicht selbst ausdrücken, sie muss immer wieder aktualisiert werden. Musik muss gespielt werden, darum kann ihr Sinn nicht mehr sein als eine Möglichkeit, vom Interpreten entdeckt zu werden. Ihr Sinn ist deswegen vor allen Dingen ein Sein der Möglichkeiten. Davon ausgehend könnte man die Musik als ein Symbol der Unendlichkeit deuten.

Auf ein Kunstwerk, gleich welcher Machart, muss man sich einstellen, es ist ein geschlossenes System, eine geschlossene Welt, eine Welt für sich. Dieses Sich-Einstellen setzt grundlegende Offenheit voraus mit allen Sinnen, nur so hat ein Kunstwerk die Chance, sich in uns zu entfalten und auf uns zu wirken. Wenn wir beispielsweise »Alte Musik« schon hören mit dem Bewusstsein, es sei alte Musik und nicht unsere eigenste und innerste Angelegenheit, ist das Kunstwerk eigentlich verloren und nicht mehr zu retten. Unsere Angewohnheit, dem Werk gerne mit einem historisierenden Blick zu begegnen, ist gefährlich, denn dadurch wird nur unsere Vorstellung von der eigentlichen Aussagekraft erschwert, der tiefere Kern bleibt unsichtbar. Wir leben nicht, sondern reflektieren lediglich über das Leben. Damit verlieren wir die Musik, weil wir uns nicht mehr trauen, die Musik allein zu fühlen, ihr im Moment zu begegnen. Wir geben uns zufrieden mit ihrer Beschreibung – und sei es der abgedruckten im Programmheft. Natürlich haben wir Musiker*innen als Ausführende eine besondere Verantwortung dem reinen Notentext gegenüber, wir sind unter anderem als gewissenhafte Textdeuter ausgebildet worden, verfügen mittlerweile über sämtliche historischen Quellen und Fähigkeiten, um genau »übersetzen« zu können. Wir sollten uns damit aber niemals zufriedengeben, sondern ein natürliches Verhältnis zur Musik im Auge behalten. Eine Komposition ist ein Organismus, allein der Text dabei dient dem Zweck, den ursprünglichen Impuls des Komponisten zu verstehen, nicht mehr und nicht weniger. Dass das Werk so ist, wie es ist, kann nur gefühlt werden. Alles zu planen in einer Aufführung ist ausgeschlossen, der Interpret ist ein Mittel zur Unmittelbarkeit der Musik, ist immer gegenwärtig und gehört niemals der Vergangenheit an. Interpretieren ist also nicht nur Beherrschen, sondern vor allen Dingen auch ein Sich-Hineinleben in die Musik. In einer Aufführung geht es für uns immer um Erfahrung und Verinnerlichung der Musik, nicht nur um Erkenntnis. Nur so wird es möglich, dem »Gegenwärtigen« in der Musik zu begegnen, durch die Angleichung der Zeit des Hörers an die Zeit der Musik. Wir vergessen über die Musik hinaus die Zeit, sie wird bedeutungslos. Nur die Kunst vermag es da ein Gefühl von »Ewigkeit« zu erzeugen, so schafft sie damit etwas, was im Leben nicht möglich ist.

Markus Poschner und das Bruckner Orchester Linz

Markus Poschner über Ludwig van Beethoven und Fidelio

Man kann Ludwig van Beethovens Bedeutung für ein Orchester im Grunde nicht hoch genug einschätzen. Für jedes Ensemble sind seine Werke das absolute Zentrum, die Messlatte schlechthin, Alpha und Omega. Das hat zwei sehr klare Gründe: einerseits verlangt er von den Ausführenden eine schon beinahe existenzielle Intensität und Kompromisslosigkeit, die Musikmachen zu einer Sache auf Leben und Tod steigert, andrerseits emanzipiert er jedes einzelne Musikinstrument wie niemand zuvor, löst es aus seinem bisherigen gewohnten Umfeld heraus und mutet ihm obendrein noch nahezu unlösbare Aufgaben zu. Die Anforderungen an die Musiker sind mit nichts zu vergleichen. Jedes Instrument ist personalisiert, spezialisiert, repräsentiert einen bestimmten Charakter, hat eine genau definierte Funktion, wie Figuren in einem Theaterstück. Dies wiederum macht das Zusammenspiel zu einer neuen Herausforderung. Es geht darum viel Mitzudenken, Mitzuhören, Mitzufühlen, wir brauchen eine extreme Wachheit und Reaktionsfähigkeit. Erschwerend kommt hinzu, dass die Romantik, die als Epoche zwischen uns und Beethoven steht, sich wie Mehltau über Beethovens Partituren gelegt hat und uns manchmal die Sinne, zu interpretieren, zu entscheiden, mit offenen Augen und Ohren dabei zu sein, betäubt. Die sogenannte Tradition verhindert wieder einmal einen klaren Blick auf die Partituren.

Wohl kaum ein Komponist hat seit seiner Lebenszeit eine derart lückenlose Rezeptionsgeschichte wie Beethoven. Daher hat sein Werk auch in unserer Wahrnehmung im Laufe der Zeit eine starke Veränderung durchgemacht. Jede Generation las aus seinen Partituren etwas anderes heraus, beanspruchte den Komponisten sozusagen für sich allein. Das schult uns heute als Musiker ganz immens, nicht diesen Überlieferungen und gutgemeinten Traditionen zu trauen, sondern nur dem Text, der eigentlichen Urquelle. Beethoven ist ein Orchestererzieher par excellence, er verlangt diese große bedingungslose Genauigkeit bei gleichzeitig kaum zu übertreffender Emotionalität. Herz und Verstand sind in perfekter Balance.

Orchestergraben
Markus Poschner
Orchestergraben

Eine Frage, die sich sicher auch im Beethoven-Jahr 2020 besonders stark stellt: Was bedeutet Beethoven für ein Orchester?
Ludwig van Beethoven ist das absolute Zentrum für jedes Orchester, die Messlatte schlechthin, Alpha und Omega sozusagen. Zum einen revolutionierte er die Anforderungen an den Orchesterapparat inklusive der Notation, die sich zwar an die zuvor üblichen Regeln aus der Tradition des Barock und der Wiener Klassik hält, zugleich aber weit darüber hinausgeht. Man könnte sagen, Beethoven personalisierte jedes Orchesterinstrument, emanzipierte es und erweiterte deren Aufgaben bis an die Grenze des Machbaren. Es existieren viele zeitgenössische Berichte, wonach Musiker sich lautstark bei ihm beschwerten, das sei alles gar nicht mehr spielbar. Es lies keinen Stein auf dem anderen, Musikmachen war nun eine Sache auf Leben und Tot. Obwohl Beethoven äußerte exakt notiert, muss sehr aktiv interpretiert werden, alles ist in Bewegung, alles phrasiert und von größter Lebendigkeit. Beethoven zu spielen schult ein Orchester bis aufs Äußerste, denn er fordert Genauigkeit, eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Text und dennoch ein Klangdenken bis hin zu größter Intimität und Zartheit. Beethovens Werke spielen, bedeutet auch immer eine Botschaft transportieren, eine Mission haben. Es ist gibt kaum emotionalere Musik.

Welchen Stellenwert hat seine einzige vollendete Oper Fidelio heute?
Der Revolutionsgedanke, der in diesem Werk steckt, reizt natürlich sehr und prägt vorwiegend auch die Musik: verführerisch, wild und ungezügelt, voller Emotion, gerade in den großen Momenten, in denen der Befreiungsgedanke so stark in den Vordergrund tritt. Selbstverständlich ist Fidelio im Geiste einer Revolutionsoper lesbar, da sind aber auch sehr intime, singspielhafte Momente, manchmal beinahe schon eine Operette. Insgesamt ist das ein unglaublich spannender Punkt. Es geht sehr stark um Themen, die uns auch heute zutiefst beschäftigen und berühren: Einsam sein, gefangen oder frei sein, was bedeutet überhaupt persönliche Freiheit und welche Rolle spielt dies in unserer Idee von Gemeinschaft? Für uns bedeutete das auch, sich bei diesem Werk entscheiden zu müssen. Dieser Beethoven verlangt eine Meinung, einen klaren Standpunkt und das ist faszinierend: es ist so viel möglich in diesem Stück und gerade in unserer Linzer Fassung, in Verbindung mit Mark-Anthony Turnages Twice through the heart wird diese metaphorische Idee und doppelbödige Sinnhaftigkeit auch stark gewollt. Das schafft eine hohe Brisanz und spiegelt gnadenlos uns heutige Menschen.

Wie klingt Turnage und wie geht das mit Fidelio zusammen?
Turnage‘s Werk ist ein sehr intimes, sehr kammermusikalisches Stück, das, obwohl eben beinahe 200 Jahre jünger als der Fidelio, der Sprache, der gedanklichen Konzeption und auch dem handwerklichen Zugriff von Beethoven durchaus verwandt ist. Es ist sehr feingliedrig, polyphon und äußerst verdichtet, ist eindrücklich und farbenreich, zugleich von großer Fragilität. Im Grunde kommt mir Twice through the heart oftmals vor wie die Implosion einer Fidelio-Szene, die Kraft und Energie zwischen beiden Werken ist beeindruckend. Es ist ganz außergewöhnlich, wie diese Kompositionen zwei Seiten einer Medaille wiederzugeben scheinen – inhaltlich, aber auch musikalisch. Sie verhalten sich sozusagen wie spiegelverkehrte Bilder zueinander. Die Stücke stehen in so starker Wechselwirkung, dass auch Beethoven anders klingen wird, die Figuren handeln aufgrund der szenischen Verzahnung auf gewisse Art ebenso anders, reflektierter, abgründiger. Der Abend bekommt dadurch eine neue zusätzliche Dimension, eine spannende Zielgerichtetheit. Diese Idee von sehr großen, sehr extremen emotionalen Zuständen – Freiheit gegen Unfreiheit als Zentrum – kommt viel klarer in unserer Gegenwart an, wenn wir Fidelio und Twice through the heart zusammen hören, zusammen sehen können. Aus der Dunkelheit in das Licht zu gehen bzw. aus dem Licht in die völlige Finsternis, so archaisch das auch klingt, verbindet beide Komponisten und beide Ideen auf zutiefst menschliche Weise.


Fotos: Reinhard Winkler

Premiere

Samstag, 19. September 2020
19.30 Uhr

Landestheater Linz

Bruckner Orchester Linz

LUDWIG VAN BEETHOVEN | MARK-ANTHONY TURNAGE
Fidelio | Twice through the heart

Oper in zwei Akten von Ludwig van Beethoven
Text von Josef Sonnleithner, Stephan von Breuning und Georg Friedrich Treitschke
In deutscher Sprache mit Übertiteln

Dramatische Szene für Mezzosopran und 16 Musiker*innen von Mark-Anthony Turnage
Text von Jackie Kay | In englischer Sprache mit deutschen Übertitel

Markus Poschner

Von Markus Poschner.

Wir modernen Menschen stehen unter großem Druck. Unsere To-do Listen explodieren, die geschriebenen oder die gefühlten, ständig stehen wir im Wettbewerb, werden verglichen, müssen uns beeilen und uns optimieren. Dank der Technik werden wir dabei auch noch immer schneller, der Computer, das Telefon, alles, sogar die eigene Familie ist immer nur einen Klick weit von uns entfernt.

Wir sind permanent verfügbar, aber auch die Welt selbst ist es, die uns in ihrer Gänze greifbar geworden ist. Alles Wissen, alle Musik, alle Bilder und Medien sind gerade einmal eine Armlänge und einen Fingerdruck von uns entfernt. Das macht süchtig, aber nicht glücklich. Verzweifelt versuchen wir, nicht die Kontrolle zu verlieren, indem wir jeden Bereich unseres Lebens durchdenken, planen und zu beherrschen versuchen. Wir halten das eigene, freie Leben selbstverantwortlich in den Händen, scheinbar souverän wie vielleicht noch nie in der Geschichte der Menschheit, und dennoch haben wir das traurige Gefühl, es zerrinnt uns zwischen den Fingern. Sind wir zufrieden? Der Dauerstress, dass 24 Stunden am Tag nicht ausreichen werden, diktiert uns den Alltag. Wie konnte das passieren, trotz all der großen technischen Zeitgewinne?

dasglueckindermusik

»Da, wo du nicht bist, ist das Glück«, vertonte Franz Schubert in seinem berühmten Lied. »Ich wandle still, bin wenig froh. Und immer fragt der Seufzer, wo?«, beschreibt er die ewige Suche nach Glück schon vor 200 Jahren.

Ist dies tatsächlich unser Schicksal? Ist es unsere Schuld? Haben wir unseren stillen Traum vom Glück vergessen?

Wir haben sehr wohl gelernt, über das Leben zu reflektieren und doch dabei aufgegeben zu leben. Unser Traum war die Erfüllung, mit der Welt in eine Beziehung zu treten. Wir wollten von den Dingen und Menschen berührt werden und gleichzeitig anderen etwas bedeuten. Wir sehnen uns nach dieser Resonanz, nach dem Erlebnis, nach Inspiration, die uns bleibend verändert. All das existiert nur in der Begegnung mit dem Gegenüber, im Fühlen, im gemeinsamen Erleben, in der Verbindung mit der Außenwelt, wie ein Kind, das mit seinem ersten Fahrrad seinen Horizont vergrößert. Das Hinausgehen ermöglicht uns erst den Zutritt zum eigenen Innenleben.

Das Konzert, ein gemeinsames musikalisches Hinausgehen, ist so etwas wie das Ideal vom Glück auf kleinstem und engstem Raum. Die Resonanz, das gleichzeitige Schwingen auf einer Wellenlänge für eine gewisse Zeit, ist der Schlüssel dazu. Wenn die Musik endet, bleibt dem Menschen etwas zurück. Er ist verändert. Und weil es eine Bedeutung hat, ist es existenziell.

Damit schafft die Musik etwas, was im Leben so schwierig und manchmal sogar unmöglich ist.

Elektra

Von Markus Poschner.

ELEKTRA ist der Beginn eines völlig neuen Denkens in der Musik: Tonalität beginnt sich endgültig aufzulösen und damit die fast 1000jährige Gebundenheit an ein System aus Regeln. In der Oper begann alles mit Orpheus, dem ersten Held, der um das Jahr 1600 als Erster singend die Theaterbühne betritt. Orpheus, der mit seinem Gesang die Natur zähmt und den Tod besiegt, bindet über seinen Gesang das Wort an ein Gefühl. Das war radikal neu. Kein Gott vermag es zu verhindern, dass er sich nach seiner geliebten Eurydike umdreht. Ein Riss geht durch eine autoritär geregelte Welt, ein Mensch setzt sich mit seinen Empfindungen über alles andere. Orpheus singt, was er fühlt. Das einzige, was er an Gegenüber akzeptiert, ist sein Echo.

Exakt am anderen Ende dieser dort beginnenden Entwicklung steht nun die Oper ELEKTRA: Ein weiteres Mal in der Geschichte gibt sich ein Werk ganz unvergleichbar seine Gesetze selbst. Es lädt ein zu einem Gang ins tiefste Innere und fährt mit dem Aufzug nicht hinauf, sondern hinunter in den schwärzesten Keller einer menschlichen Existenz – ohne jegliche Tabus. War bis dahin das Kernmotiv der Operngeschichte Vergebung, Erlösung oder Läuterung, so ist es in ELEKTRA der reine Hass. Hass, der zu nichts führt und alles verstummen lässt. So stehen am Ende der Oper sogar die Worte: »Es herrscht Stille.« Und da, wo abgrundtiefer Hass herrscht, muss anfangs natürlich auch unbändige Liebe im Spiel gewesen sein.

Elektra
Foto: Reinhard Winkler

Diese extremen emotionalen Zustände forderten den Komponisten Richard Strauss zu einer ebenso extremen Antwort heraus: Die Leitmotivtechnik und Polyphonie im Sinne Richard Wagners ballt sich zu ungeahnten neuen Formen und Überlagerungen, die immer wieder die Grenzen der Tonalität erreichen oder unumkehrbar überschreiten. Der orchestrale Aufwand ist der größte überhaupt in einer Strauss-Oper, und die Anforderungen an Orchester und Sänger-Ensemble sehr hoch. Das Genie Hofmannsthal hat die Geschichte eines Familien-Traumas entworfen, die mit Strauss` genialer Musik zu einem Monstrum verschmolzen ist: Alle sind Täter und alle sind Opfer. Es spiegelt genauso den Zeitgeist seiner Entstehung und ist auch Fanal des Zusammenbruchs der alten Ordnung im ›Fin de siècle‹ vor dem ersten Weltkrieg, wie es für unser Heute eine brandaktuelle Warnung bedeutet: Niemand entrinnt seiner eigenen Geschichte!  Alle Figuren in diesem Stück sind defekt, sie lehnen sich gegen die ihnen von der Gesellschaft zugeteilten Rollen auf. Der Tochter-Mutter-Konflikt zwischen Elektra und Klytämnestra behrrscht das Zentrum, was auch in der Spannung zwischen unerfüllter und erfüllter Sexualität zu suchen ist: Klytämnestra, die Enthemmte und Befreite. Elektra, die Unterdrückte und Gefangene. Einzig Chrysothemis will »einfach nur ein Weiberschicksal und Kinder haben«.

Trotz der antiken Klarheit der Geschichte ist der zentrale Konflikt vielschichtig und stets vage, was Strauss musikalisch zwischen die Zeilen verlagert. Jederzeit ist alles möglich. Und immer weiß es die Musik zuerst. So entstand ein brutaler Psycho-Thriller, der Assoziationen an großes Kino weckt. Die Musik könnte auch immer wieder als ›Soundtrack‹ durchgehen, der ungebremst sein Tempo durchzieht und alle atemlos und verrückt macht. Andrerseits spiegelt das Werk die Säulen der antiken Tragödie: Rückkoppelung, Verkettung und große Metaphern; vor allem jene von der Familie als kleinste gesellschaftliche Einheit, in der sich die größtmögliche Katastrophe abspielt.

Bruckner Orchester Linz

Ein Bekenntnis.

Von Norbert Trawöger & Markus Poschner.

Die Frage nach »Warum Bruckner?« braucht in Oberösterreich nicht gestellt zu werden. Gerade deshalb muss sie immer wieder beantwortet werden, auch ungefragt. Große Kunstwerke sind weder in zeitlicher noch in geografischer Hinsicht hermetisch abgeschlossene Räume. Sie sind zeitlos, damit auch zeitlos modern und uralt zugleich. Im Falle der Musik sind diese noch dazu von der Wirklichkeit abgeschnitten, außer im Moment ihrer Aufführung, im Moment ihres Erklingens. Zwischen uns und dem Kunstwerk steht – wie eine undurchsichtige Membran – der Text.

Einen Text zum Klingen zu bringen, heißt für den Verwirklicher in erster Übung: Lesen, lesen, lesen … in zweiter: nochmals lesen – und zwar jetzt vor allen Dingen zwischen den Zeilen. Die Zeichen wollen enträtselt, immer wieder von neuem verstanden werden. Das Werk will und muss sich schließlich ja auch uns gegenüber immer wieder aufs Neue beweisen dürfen. Und da sind wir bei einem Punkt, der uns immer beschäftigen muss: sobald ein Werk aufgeführt wird, schreibt sich diese Aufführung in die Aufführungsmechanik ein. Diese Tradition überzieht das Werk selbst mit der Aura seiner Aufführungsgeschichte. Der Text wird unsichtbar mit dieser Aura aufgeladen (und mitunter sogar durch üble Eingriffe in die Noten oft sehr sichtbar, wie bei Bruckner durch regelrechte Überschreibungen der Fall). Das Pathos tritt zu Tage und wird selbst zum Treibstoff der Musik. Es wuchtet die Musik vor sich her, treibt sie in eigene Ecken, sozusagen im permanenten Überwältigungs-Modus. Und schon kommen wir auf ein Abziehbild Bruckners zu sprechen, der im quasireligiösen Eck seine Weihrauchkathedralen errichtet. Und schon haben wir ihn: den ›Musikanten Gottes‹ – das Klischee par excellence. Öha, sollte der gelernte Oberösterreicher sagen. Zu allererst sollte man anmerken, dass man den Schöpfer nicht immer gleich mit seinem Werk verwechseln sollte, auch wenn sie naturgemäß viel miteinander zu tun haben, viel mehr hatten. Und dann ist da eben noch die Sache mit der sogenannten Tradition, die unverstanden nur zur Schlamperei führt und für die Kunst lebensgefährlich bleibt. Bruckner ist tot. Es lebe Bruckner!

Was heißt das? Es gilt den Ur-Grund zu verstehen. Es gilt den Ur-Text zu lesen, auch den oberösterreichischen Luftraum zwischen den Zeilen. Es gilt zu begreifen auf welchem Grund seine Musik daher kommt, auf welcher Tradition sie wurzelt: Gregorianik, Palestrina, Bach, Carl Philip Bach, Mozart, Haydn, Beethoven, Schubert …. Welch klare Linienzeichnung. Ja, die monolithische Eigenständigkeit Bruckners steht auf abendländischem Klangboden, bricht in seiner religiösen Frömmigkeit aus seinem vielleicht tollpatschigen Körper im Hoamatland aus. Seine Musik überschreitet die Grenzen des Tradierten. Und vergisst dabei niemals seine Scholle, seinen Dialekt. Eine Entladung seines Werks heißt hin zum Ursprünglichen, zum Singen, zum Text, zum Landler … Dies vermag eine ursprüngliche Urwucht zu offenbaren, die frei von Pathos zum schwärmerischen Gefühl eines exzessiv Tanzenden, eines Sängers ist, der vom Unendlichen zu singen vermag. Die Füße fest am Boden, den Kopf im Himmel. Man möge den Boden nicht vergessen und, dass Bruckner mitten in der Kirche aus dieser rausdrängte. Ein Mensch, mehr eine Musik, die dort steht und von dort aus die Kathedrale sprengt, um direkt mit Gott ins Gespräch zu fallen. Der Fromme war ein Ketzer, wie alle Mystiker, einer, der den oberösterreichischen Dialekt sprach. Viel mehr seine eigene Sprache fand: Mystik, Transzendenz, Ekstase …

Ein Aufführungsbewusstsein, das weiß, wo es zu stehen hat – in unserem Fall auf genau der Erde wie der Genius Loci – hat das Werk von einer verfälschenden Aura zu entledigen und dem Ur-Sprung zurück zu führen. Nicht alleine die Entladung zeitigt Bruckners Musik, aber sie hilft, wie das Landler tanzen ….

Markus Poschner

Ein Visionstext zu (und mit) Markus Poschners Amtsantritt in Linz.

Von Norbert Trawöger.

Für Umberto Eco ist die Schmiede der ursprüngliche Ort aller Musik. Der Windbalg bläst, das Feuer knistert und das glühende Metall wird in vielfältig perkussiver Art in Form gebracht. »Die Stärke und Schwäche der Töne, ihr Druck, Schnellen, Ziehen, Stossen, Beben, Brechen, Halten, Schleppen und Fortgehen«, machen laut Carl Philip Emanuel Bach einen guten musikalischen Vortrag aus. Es sind Handwerksgeräusche an einem archaisch verrauchten Handwerksort, in dem Feuer und Wind eine zentrale Rolle zukommt. Dieser ist ein elementarer Ausgangsort unserer Musik. Welch faszinierender Gedanke! Jede Schmiede braucht einen Schmied. War Bruckners Urschmiede die Orgel in der Pfarrkirche von Ansfelden? Die Sorge seines Vaters für die Kirchenmusik des Orts galt früh auch dem musikalischen Sohn. Vielleicht weil es sich so gehört, aber sein Feuer wurde angezunden, die Blasbälge der Orgel sorgten dafür. Die Orgel als Ort, an dem Bruckner sein Handwerk anzulegen beginnt. Über dem Hügel lag Sankt Florian, es liegt dort immer noch, wie der Entfachte selbst unter seiner Orgel. Das Stift war für den blutjungen Bruckner eine frühe Ahnung von einer ganz anderen Dimension. Ich will diesen Gedanken vorerst nur in architektonischer Hinsicht fassen. Der Kirchenraum, in dem seine Schmiede steht, expandiert ins Unbegreifliche, der Rauch mutiert zum Weihrauch. Bis heute staune ich immer wieder von Neuem über die Ausmaße des Stifts. Eine Großmächtigkeit, die durchaus etwas Einschüchterndes an sich hat, im besten Fall Demut auszulösen vermag. In den Weiten (und Engen) des sakralen Raums wächst Bruckner heran. Und nicht nur das, dieser steht auf dem Land, auf der grünen Wiese, nahe der größeren Stadt Linz, das damals noch kleiner und viel ferner war als heute. Anton Bruckner ereignete sich in einem bestimmten Landstrich namens Oberösterreich. Nirgends anders hätte es passieren können, zwischen Kyrierufen und Landlerschritten, Hügeln und Wäldern. Dort, wo ein Dialekt gesprochen wird, der bis heute unverwechselbar ist und auf den Klang der Menschen abfärbt. Wie er auch in die Musik eingeht, die von Klangschöpfern auf den Äckern unseres Landes geschaffen wurde und wird. Musik ist nicht geografisch zu verwurzeln, ihre Schöpferinnen und Schöpfer schon.

Bruckner geht nach Linz, wird Domorganist. Der Ausbruch ist im Gange. Er sorgt selbst unablässig dafür. Hätte er nicht ein ewiger und unvergessener Kirchenmusiker bleiben können? Ein Orgelimprovisator, der Nancy, Paris und London im Klangrausch erobert und danach vor seinen Orgeln kniet. Im Londoner Kristall-Palast spielt er vor siebzigtausend Zuhörenden. »Nein, die Welt ist zu schlecht, ich schreibe gar nichts für Orgel.« Mit über vierzig Jahren bricht er endgültig aus, um lebenslang wieder und wieder auszubrechen, auch aus dem Kirchenraum. Er findet sich und seine Sprache im Formgelände der Symphonie. Symphonien von exzessiven formalen und tonalen Dimensionen, die wie fremdartige, unverständliche Meteoriten einschlagen. Keine Messen, dieser Ketzer, dieser Mystiker. Die Orgel lässt er dafür auf der Terrassendynamik stehen, es kommen ganz ungeahnte Farben und Kräfte ins Spiel. Alles hat seine Grenzen. Nur nicht Bruckner. »Er ist jenseits.«, drückt es sein Wiener Gegenspieler Johannes Brahms aus.

Dieser Bruckner wird innerhalb der Grenzen unseres Landes geboren, wächst hier auf, entwickelt sich hier und geht von hier schwer weg. Er ereignete sich hier! Seine Musik bleibt und wird ein ewiges Ereignis. Sie gehört uns nicht, aber sie gehört zu uns, zu unserem Land, zu unserer Identität. Das Bruckner Orchester Linz gehört zu diesem Land, auch wenn weit über die Grenzen hörbar. Es trägt mehr als nur seinen Namen, was mehr als nur eine Verpflichtung ist. Es hat dort Heimat, wo Bruckner in die Welt aufbrach. Das Orchester spricht den gleichen Dialekt. Diesen will der neue Chefdirigent Markus Poschner deutlich hörbar machen, weit über die Grenzen hinaus und international unverwechselbar. Ein Aufbruch in die weite Welt. Die Füße fest am Boden, auf dem das Bruckner Orchester Linz steht und wurzelt: Oberösterreich und Anton Bruckner. Alles ist möglich.

Warum Bruckner? Weil er sich an uns richtet, uns auch heute noch findet (…und uns auffordert, ihn zu bändigen.), schreibt mir ein Freund. Bruckner trifft ewig.