Schicht für Schicht

»Mit dem RSO-Wien hat sich der Grazer Musikverein zum letzten Orchesterkonzert 2022 einen der besten heimischen Klangkörper ins Haus geladen. Dirigiert von Markus Poschner gelang dem Orchester eine messerscharf sezierte ›Vierte‹ Anton Bruckners. Zuvor hörte man mit Raminta Šerkšnytes ›Midsummer Song‹ zeitgenössisch körperlose Klangkunst.

Markus Poschner dirigierte das RSO-Wien im Stefaniensaal

Ein Stück von 2009 vor Bruckners ›Romantische‹ Symphonie Nr. 4 zu stellen – ja, dürfen’s denn des? Ja, sie dürfen. Und es ist sogar eine gute Idee. Denn der ›Midsummer Song‹ der Litauerin Raminta Šerkšnyte schwebt an diesem Abend vor dem Giganten wie der Geist über den Wassern. Völlig körperlos, in Zuständen gehauchter Nichtigkeit, gibt der Streicher-Apparat das feingliedrige Lied als Gedankenbild: Da oben fliegen sie, die Geister.

Leicht hätte Poschner (Chef des Linzer Bruckner-Orchesters) das Werk als einen nordischen Auftakt zum großen Bruckner-Schnitzelessen auslegen können. Zu dem kommt es aber nicht, denn die ›Romantische‹ des RSO ist insgesamt weniger mit Panier überzogen als vielleicht gewohnt. Natürlich ist da in lauten Passagen eine kräftig tönende Macht am Werk – aber es ist eine Schärfe mit Begründung. Ihr voran geht ein Schneiden, Schicht für Schicht durch die Orchesterstruktur, mit der Poschner in Durchführung oder Andante Lymphknoten, Blutgefäße und Sehnen des Werks offenlegt. Präzise wie ein Anatom beschreibt das Orchester in klar abgesetzten Einsätzen die Grundstoffe des romantischen Prozesses. Solche Transparenz vertreibt den Nebel, manche Passage, etwa im Scherzo – man spielt doch nicht die Ur-, sondern die Drittfassung –, riecht weniger nach Wald und Wiese als sie könnte. Dafür erlebt man das Werden der Romantik Schicht für Schicht.«

Kronen Zeitung, 22.12.2021
Foto: Volker Weihbold